LOB DER MELANCHOLIE

OLAF KNELLESSEN ZU

„KÖRPERZEIT“

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Die „Unfähigkeit zu trauen“, die Alexander und Margarete Mitscherlich vor 40 Jahren diagnostizierten, hat sich längst in ihr Gegenteil verkehrt. Trauerarbeit ist zu einem wohlfeilen Therapeutikum verkommen, um sich unbeeinträchtigt der Zukunft zuwenden zu können. Don DeLillos Roman „Körperzeit“, in einer kongenialen Dramatisierung von Roland Schimmelpfennig und Jan Langenheim zur Zeit am Theater am Neumarkt zu sehen, bringt eine ganz andere Art der Trauer ins Spiel – und bildet damit ein „melancholisches“ Korrektiv für funktionalisierte Trauerarbeit.


Welche Trauer ist normal, fragt sich Freud angesichts der so verschiedenen Reaktionen auf den Verlust eines geliebten Menschen. Scheinbar unkomplizierten Verläufen, in denen sich der Betroffene nach angemessener Zeit dem Leben wieder allmählich zuwenden kann, stehen schwere Depressionen gegenüber, in denen das Ich und die Welt gleichzeitig unterzugehen drohen.

Trauer und Melancholie heisst die Schrift Freuds, in der er trotz der für ihn unübersehbaren Schwierigkeit, wirkliche Unterschiede zwischen den beiden Affektionen festmachen zu können, die Trauer als den Normalaffekt bezeichnet, die Melancholie hingegen als pathologische Form der Trauer sieht. Pathologisch insofern als sie am verlorenen Objekt festhalten will – das Subjekt löst sich von ihm, indem es sich mit ihm identifiziert –, wohingegen die Trauer sich vom Objekt löst, indem sie es aufgibt. Während auf der Melancholie der Schatten des Objekts liegt und liegen bleibt, macht die Trauerarbeit frei. „Tatsächlich wird aber das Ich nach der Vollendung der Trauer wieder frei und ungehemmt“, schreibt Freud. Subjekt und Objekt sind und bleiben voneinander getrennt. Dies ist die Konstruktion Freuds in dieser Schrift von 1917.

Nicht Trauer und Melancholie, sondern Trauer oder Melancholie müsste es demnach heissen. Denn das Fehlen der Trauer verstanden als Anerkennung der Realität des Verlusts, lässt das Subjekt in Melancholie, in Depression versinken.

In diesem Sinne diagnostizierten vor inzwischen 40 Jahren Alexander und Margarete Mitscherlich für Deutschland die Unfähigkeit zu trauern. Wie, das war ihre Frage, lässt sich die Freiheit des Einzelnen und die Toleranz gegenüber dem Anderen in einer Gesellschaft gewährleisten, die von der unermesslichen Schuld der Verbrechen des Nationalsozialismus belastet ist? Sich vom Schatten dieser Vergangenheit zu lösen, sei nur möglich durch Trauerarbeit, die zur Anerkennung der damaligen Realität und der eigenen Schuld führen müsse.

Die Verordnung zur Trauer ist ernst genommen worden. In weiten Bereichen und auf vielen Ebenen der Gesellschaft sind in den letzten Jahren beispiellose Anstrengungen zur Bewältigung dieser schrecklichen Vergangenheit und zur Wiedergutmachung unternommen worden.

Trauerarbeit hat seither einen ungeahnten Aufschwung als Therapeutikum. Sie wurde zum Paradigma der Bewältigung auch des persönlichen Schicksals und seiner Verluste. Mit ihr – so lautet die Prognose – kann man alles Schwere und Schwierige im Leben hinter sich lassen und sich unbeeinträchtigt der Zukunft zuwenden. All das, was im Innern des Menschen störend und belastend ist, kann und soll auf diese Weise schnell und ohne Spuren zu hinterlassen wieder entäussert werden. Dadurch – so lautet die Devise – wird der Mensch wieder frei und offen.

So hat sich das, worum sich die Mitscherlichs noch bemühten ins Gegenteil verkehrt: der Blick zurück wird ersetzt durch den unaufhaltsamen Blick nach vorn. Solcherart funktionalisierte Trauer wird zur Karikatur dessen, was Freud in seinem Konzept der Trauer in Aussicht stellte: die Befreiung vom Schatten des verlorenen Objekts durch Anerkennung der Realität seines Todes.

Körperzeit bringt demgegenüber mit der – so könnte man mit Freud sagen – „melancholischen Verarbeitung“ eine ganz andere Art der Trauer ins Spiel. Körperzeit ist der Roman von Don DeLillo, der zur Zeit in der Bühnenfassung von Roland Schimmelpfennig im Theater am Neumarkt gespielt wird.

Der Roman beginnt mit einer Sprache, die mit sicheren Strichen ein vielschichtiges und einnehmendes Stimmungsbild des gemeinsamen Frühstücks eines erst seit kurzem verbundenen Paares, Lauren und Rey, skizziert. Es ist durchzogen von einem Hauch Melancholie. Das vertraute und spielerische Zusammensein der beiden ist manchmal plötzlich unterbrochen von einer Fremdheit zwischen ihnen. „Er schaute ... wie sie es nicht mochte.“ Dann ist ein Moment von Verlust zu ahnen und zu spüren. Der Häher, den Lauren bewegungslos und gebannt durchs Fenster beobachtet, fliegt auf und davon, als Rey sich bewegt. Ein Verlust des Augenblicks, ein Verlust der Unmittelbarkeit liegt in der Luft. Und der Versuch etwas festzuhalten: den Geschmack der Blaubeeren, das Geräusch (des Kühlschranks?), das Ereignis, das Unmittelbare, die Koinzidenz.

Die virtuose Sprache DeLillos ist der Versuch dieses Festhaltens. Es ist eine Sprache des Futur II, eine Sprache der abgeschlossenen Zukunft. Nicht als grammatikalische Form, sondern von der Art ihrer Beschreibung, von ihrem Klang, von ihrer Stimmung her: es wird gewesen sein. Einmal heisst es: „Sie tastete sich rückwärts durch die Zeit.“ Schöner kann man es nicht sagen.

Die Subtilität der Sprache wird ingeniös auf die Bühne gebracht. Indem die Bühne mitten im Zuschauerraum steht, wird das Ungetrenntsein und Ineinander der Räume betont, wird der Zuschauer auf ähnliche Art in die Szenerie des Stücks hineingezogen, wie es die Sprache im Roman mit dem Leser macht. Man kann nicht ausserhalb bleiben.

Darüber hinaus wird der Anfangsteil des Stücks – das gemeinsame Frühstück – hinter einem durchsichtigen Vorhang, hinter einem Schleier gespielt. Der bleibt dann – nach dem Selbstmord von Rey – für den Rest des Stücks hochgezogen. Damit wird eine Verkehrung markiert: nicht der Anfangsteil, als letzte Realität des gemeinsamen Frühstücks, stellt das Zentrum, den Standort des Stücks dar, sondern die Zeit danach. Von dort blickt man zurück durch den Schleier und in den Schleier. So inszeniert das Bühnenbild die Verkehrung der Zeit, das Futur II: „Sie tastete sich rückwärts durch die Zeit.“

Die Verkehrung der Zeit ist Erinnerung. Zunächst sprachliche Erinnerung. Das Gewesene wird wiedererzählt. Wieder und wieder. Die Sprache wird zum Erinnerungssystem. Zum recording-system. So wie der Kassetten-Rekorder, so wie der Anrufbeantworter mit der synthetischen Stimme.

Aber nicht nur die Sprache tastet sich zurück. Auch der Körper. Er spielt als körperliche, stumme Erinnerung die Szenen immer wieder. Er bewegt sich im Raum wie damals, wiederholt die Handlungen, Haltungen und Gesten, pointiert sie noch, dehnt sie aus, lässt sie anhalten. Er spielt die Szenen wieder, erinnert sie körperlich. So wird auch der Körper zum recording-system. Lauren ist – nicht zu vergessen und nicht zu übersehen – Performance-Künstlerin. Im Körper materialisiert sie die Erinnerung, der Körper wird materialisierte Erinnerung.

Dann taucht Mr. Tuttle auf. Eine Figur aus dem Nichts. Auch er ist Erinnerung. „... dann hörte sie seine Worte, genau diese Worte, gesprochen von dem Mann auf dem Stuhl neben ihr.“ Das ist Mr. Tuttle, der Rey’s Worte spricht. Mr. Tuttle ist der Kassetten-Rekorder für andere Stimmen. Auch er ist materialisierte, verkörperlichte Erinnerung. Rey geht, Mr. Tuttle kommt. Ist er Rey? Ist er Rey’s Geist? Ist er einfach jemand? Der, der er ist? Ein Kaspar Hauser? Ein Verlorener der gefunden wird, ein Findling, ein Findelkind, das man findet?

Freud hat einmal geschrieben, dass der Mensch angesichts des Todes eines Angehörigen mit einer doppelten Andersartigkeit konfrontiert ist. Die Erlösung von der immer irritierenden, herausfordernden und nie zu bewältigenden Fremdheit des Anderen geht einher mit der Begegnung mit der Andersheit des Todes. An dieser Stelle schreibt er: „Aus diesem Gefühlskonflikt wurde zunächst die Psychologie geboren. ... An der Leiche der geliebten Person ersann er die Geister, und sein Schuldbewusstsein ob der Befriedigung, die der Trauer beigemengt war, bewirkte, dass diese erstgeschaffenen Geister böse Dämonen wurden, vor denen man sich ängstigen musste." (GW X, S. 346f.)

Ob Geist oder nicht, das ist hier nicht die Frage. Auf jeden Fall ist Mr. Tuttle ausserhalb der Zeit. So wie man es ist nach dem Tod einer geliebten Person. Er ist auch ausserhalb des Takts, ausserhalb der Berührung. Es heisst: „Selbst im einfachsten Gespräch gibt es einen Code, der den Sprechern mitteilt, was ausserhalb der blossen Akustik vor sich geht. Der fehlte, wenn sie redeten. Ein Taktschlag fehlte. Es fiel ihr schwer das Tempo zu finden. Das Einzige, was sie hatte, waren unzugeordnete Wörter.“ Es fehlt der Code, es fehlt der Takt, es fehlt die Verbindung, die Berührung. Wie zu Rey.

Mr. Tuttle steht ausserhalb der Berührung und ausserhalb der Liebe. Dies wird ebenfalls aus einer Umkehrung deutlich. Aus der Szene nämlich, in der es zu einer Berührung kommt – Lauren wäscht den in der Badewanne sitzenden Mr. Tuttle und berührt, ja streichelt ihn am ganzen Körper. Mit der Berührung kommt die Liebe. Sie tanzen zusammen, sie küssen sich.

Ohne also zu sagen, wer er ist, ist Mr. Tuttle verkörperlichte Erinnerung. Rey geht, Mr. Tuttle kommt: verkörperlichte Erinnerung des Verlusts.

Indem der Körper zum Erinnerungssystem wird, verändert er sich. Über repetierende Wiederholungen verändert er sich immer mehr. Der Körper als recording-system wird immer mehr zu dem, was er erinnert.

Dieser Prozess der Veränderung kulminiert in der Mannwerdung von Lauren. Der Ausgang dieser Entwicklung ist sehr pointiert, aber stringent: er verdeutlicht die Metamorphose, die sich in der Erinnerung vollzieht. Die Erinnerung, die immer mehr körperlich wird, wird zur Veränderung. Zu einer Veränderung, die immer mehr in Richtung des Verlorenen geht.

Rey, der Verstorbene, wird – so muss man sagen – von Lauren aufgegeben, indem sie auf besondere Weise an ihm festhält, indem sie zu ihm wird.

So kommt in der Trauer zur Verkehrung der Zeit eine Verkehrung der Personen, eine Verkehrung der Positionen. Lauren wird zu Rey. Und wie er, steht auch sie plötzlich auf und geht – aufs WC. So wie er verschwindet, verschwindet auch sie.

Theater ist Körperkunst, Theater ist Performance, was von den Schauspielern im Neumarkt grossartig in Szene gesetzt wird. Körperzeit heisst dann, dass Zeit verkörperlicht wird, dass der Körper die Zeit durchschreitet. Nicht nur nach vorwärts, sondern auch zurück. Ganz so wie die beiden Autos auf der Strasse in Finnland, die auf der Screen gezeigt werden. Sie fahren gegeneinander, ineinander und auseinander.

Trauer – so erzählt das Stück weiter – ist nicht nur sprachliche Erinnerung, sondern vor allem körperliche. Trauer ist auch Performance. Performance, in der man ein anderer wird. Performance, in der man den anderen aufgibt, indem man an ihm festhält, indem man zu ihm wird.

Und damit erzählt das Stück von einer ganz anderen Trauer, als es die ist, die so sehr in Mode gekommen ist. Diese melancholische Trauer macht sich nicht einfach frei vom verlorenen Objekt. Sie löst sich, indem sie sich an es bindet. Und dabei weicht sie dem Tod nicht aus. Bei Freud heisst es, dass „die Trauer das Ich dazu bewegt, auf das Objekt zu verzichten, indem es das Objekt für tot erklärt und dem Ich die Prämisse des Amlebenbleibens bietet...“ (ebda. S. 211). Lauren sagt demgegenüber: „Warum sollte sein Tod dich nicht in einen totalen Aufruhr, in einen gewänderzerreissenden Kummer stürzen? Warum solltest Du seinen Tod annehmen? Oder dich in schmallippiger, geschmackvoller Trauer ergeben? Warum solltest du Rey aufgeben, wenn du den Flur entlanggehen und eine Möglichkeit auftun kannst, ihn in Reichweite zu haben? – Tiefer sinken, dachte sie. Soll der Tod dich herunterholen. Geh, wohin er dich bringt.“

Hier löst man sich also vom Anderen, indem man ihn in sich ausbildet, indem man sich zum Anderen macht. Das Theater als Trauerspiel. Und umgekehrt Trauer als Theater.



Olaf Knellessen ist Psychologe und Psychoanalytiker mit eigener Praxis in Zürich; Teilnehmer am Psychoanalytischen Seminar Zürich PSZ; Publikationen zur Theorie und Praxis der Psychoanalyse.

„Körperzeit“ von Don DeLillo in der Bühnenfassung von Roland Schimmelpfennig. Uraufführung am 11.April 2007 im Theater am Neumarkt, Zürich. Weiter Aufführungen: 24.,25., 30., 31.Mai, 1.,2., 6., 7.,8. und 9.Juni, jeweils 20 Uhr.